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Mütter bei Olympia: Leistungsfähigkeit nach Schwangerschaft und Geburt
Im März kündigten das Internationale Olympische Komitee (IOC) und das Organisationskomitee für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio an, dass die Spiele in Tokio die "ersten geschlechterparitätischen Olympischen Spiele in der Geschichte" sein würden.
Seit Jahrhunderten dominieren Männer den Spitzensport. Dennoch inspirieren Spitzensportlerinnen bei den Olympischen Spielen, seitdem Frauen 1900 zum ersten Mal bei den Spielen in Paris antreten durften, Generationen von neuen Sportlerinnen. Für eine bessere Sichtbarkeit des Frauensports aber auch für die Belange der Frauen im Spitzensport, setzt sich unter anderem die IOC-Kommission für Frauen im Sport (Women in Sport Commission) ein. Die Olympischen Spiele und Paralympischen Spiele 2020 in Tokio haben, trotz der Ankündigungen des IOC und der Bemühungen der Kommission, Hindernisse aufgezeigt, mit denen Athletinnen, vor allem aber Mütter und werdende Mütter konfrontiert sind, wenn sie um die begehrten Plätze in der olympischen Rangliste kämpfen.
Beispielsweise hat das Organisationskomitee in Tokio der kanadischen Basketballspielerin Kim Boucher vor Beginn der Olympischen Spiele zunächst untersagt, ihr drei Monate altes Kind, das sie stillt, in das olympische Dorf nach Tokio mitnehmen zu dürfen. Unter Druck der internationalen Medien änderte sich die Haltung des Komitees. Auch die amerikanische Sprinterin Allyson Felix nahm zum ersten Mal als Mutter an ihren fünften Olympischen Spielen teil. Die Bilder, wie sie gemeinsam mit ihrer Tochter ihre Qualifikation zu den Spielen feiert, gingen um die Welt. In Tokio erreichte sie im 400-Meter-Einzel-Finale mit 49,46 s – der zweitschnellsten Zeit ihrer Karriere – den dritten Platz. Am 07. August gewann sie mit ihren Teamkolleginnen darüber hinaus im 4x400 die Goldmedaille. Nach der Geburt ihrer Tochter 2018, hatte Felix ein medienwirksames Zerwürfnis mit ihrem Sponsor Nike, der ihr 70% weniger Unterstützung zukommen lassen wollte. In Folge des Streits, passte Nike seine Richtlinien zum Mutterschutz an, um für einen Zeitraum von 18 Monaten zu garantieren, dass Athletinnen keine finanziellen Einbußen durch ihre Schwangerschaften erleiden.
Nun ist Felix die erfolgreichste Leichtathletin der olympischen Geschichte und hat mit Atletha einen neuen Sponsor. Auch die deutsche Parakanutin Edina Müller hat sich nach der Geburt ihres Sohnes für Tokio qualifiziert. Müller wurde durch ihre Sponsoren und Trainer weiter unterstützt, verlor jedoch die Sportförderung und musste Akkreditierung, Unterkünfte und Flüge für die Teilnahme an den Olympischen Spielen mit Kind selbst organisieren und finanzieren. Müller klagte zudem darüber, dass es im Leistungssport kaum evidenzbasierte Trainingsempfehlungen für die Zeit nach der Geburt gäbe. Trotz dieser Widrigkeiten gewann auch sie mit eigener Bestzeit von 53,958 Sekunden bei den diesjährigen Spielen souverän Gold.
Das Verhalten Nikes und fehlende organisatorische Rahmenbedingungen für Mütter bei den Olympischen Spielen deuten auf die Annahme hin, dass Mütter nach einer Schwangerschaft und Geburt nicht mehr leistungsfähig seien. Studienergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass Frauen ähnlich leistungsfähig, sogar leistungsfähiger sein könnten: Beilock et al. (2001) resümierten, dass Sportlerinnen ihr Trainingsprogramm während der Schwangerschaft anpassen können, ohne dass sich dies wesentlich auf ihr Programm nach der Geburt auswirke. In einer retrospektiven Studie mit 40 norwegischen Spitzensportlerinnen setzten 77 % nach der Geburt ihre Wettkämpfe auf gleichem Niveau fort (Bo et al., 2007). In einer Studie aus dem Jahr 1972 berichteten Olympiateilnehmerinnen und Spitzensportlerinnen, dass sie sich nach der Geburt körperlich fitter fühlten und ihre technischen Fähigkeiten verbessert hatten und dass sie häufig ihre vor der Schwangerschaft erzielten Rekorde übertrafen. Tatsächlich sind die Erkenntnisse zu Training und körperlicher Leistungsfähigkeit im Spitzensport nach einer Schwangerschaft noch gering.
Daten zu gesundheitlichen Schäden durch ein Training während und nach der Schwangerschaft liegen hingegen vermehrt vor. Schäden sind Studienergebnissen zufolge für Mütter und Kinder kaum zu befürchten (Sungot-Borgen et al., 2019). Prof. Jane Thornten und Kollegen veröffentlichten eine Meta-Analyse zu Schwangerschaft und Leistungssport und kamen zu dem Schluss, dass bei Elitesportlerinnen ähnliche Schwangerschafts-, Geburts- und Entbindungsergebnisse wie bei Sub-Elite- und Freizeitsportlerinnen zu erwarten seien (Wowdzia et al., 2021).
Im Sinne der Frauen und geschlechterparitätischer Bedingungen im Leistungssport, rief Prof. Thornten in einem Artikel im Online Magazin The conversationdazu auf, Rahmenbedingungen im (Spitzen)sport zu schaffen, die die Belange und die Gesundheit aller Athlet*innen, insbesondere auch die von Müttern, berücksichtigen. Die sportmedizinische und trainingswissenschaftliche Forschung wird sich diesem Thema weiter annehmen und evidenzbasierten Empfehlungen liefern. Auf dem Sports, Medicine and Health Summit im Juli 2023 soll diese Thematik aufgegriffen und Trainingsempfehlungen diskutiert werden. Eine erste Einschätzung finden Sie in unserem Interview mit der leitenden Ärztin des Paralympics Team Deutschland, Prof. Anja Hirschmüller (hier).
Dieser Artikel wurde geschrieben von Laura L. Bischoff.
Literatur:
Bø, K., & Backe‐Hansen, K. L. (2007). Do elite athletes experience low back, pelvic girdle and pelvic floor complaints during and after pregnancy?. Scandinavian journal of medicine & science in sports, 17(5), 480-487. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17181768/
Sundgot-Borgen, J., Sundgot-Borgen, C., Myklebust, G., Sølvberg, N., & Torstveit, M. K. (2019). Elite athletes get pregnant, have healthy babies and return to sport early postpartum. BMJ open sport & exercise medicine, 5(1), e000652. https://bmjopensem.bmj.com/content/bmjosem/5/1/e000652.full.pdf
Wowdzia, J. B., McHugh, T. L., Thornton, J., Sivak, A., Mottola, M. F., & Davenport, M. H. (2020). Elite Athletes and Pregnancy Outcomes: A Systematic Review and Meta-analysis. Medicine and Science in Sports and Exercise. 53(3): 534-542. 10.1249/mss.0000000000002510
Zaharieva, E. (1972). Olympic participation by women: effects on pregnancy and childbirth. Jama, 221(9), 992-995.